Wirtschaftsmagazin für die frauenärztliche Praxis 5/2024
MEDIZIN
Mikrobiom wird zum lukrativen Geschäft
Ein Exkurs zum menschlichen Mikrobiom Als Mikrobiom bezeichnet man die Gesamtheit aller Mikroorganismen (Bakterien, Archaeen, Viren, Pilze und Protozoen), die einen Menschen besiedeln. Jeder Mensch trägt rund 100 Billionen Mikroben in sich, was zusammen 1,5 bis 2 kg ausmacht. Dies sind doppelt so viele einzellige Organismen, wie wir Körperzellen haben. Sie leben im Darm, auf der Haut, im Mund und im Urogenitalbereich. Unser Mikrobiom ändert sich z. B. durch Infektionen, Medikamente und Stress. Auch der pH-Wert beeinflusst die Art des Mikrobioms (z. B. Mundhöhle ca. pH 7, Vaginal sekret ca. pH 4, Sperma pH 7,2 bis 8, nüchterner Magen ca. pH 2, Dickdarm pH 5,5 bis 6,5). Dies bewirkt ein recht unterschiedliches Mikrobiom, und daher ist auch die Übertragung im sexellen Bereich verschieden.
Zum Schutz des Mikrobioms und aus Angst vor Infektionen lassen sich lukrative Geschäfte machen. Das geschieht derzeit beim Verkauf von Probiotika und Präbiotika. Sinnvoller für das Darmmikrobiom ist jedoch eine pflanzenbetonte Er nährung, die durch geeignete Ge müseauswahl, z.B. Chicorée, Ar tischocken und Schwarzwurzeln, gefördert werden kann. Dazu ge hören auch Milchprodukte, die viel Laktobazillen als omnipotente Bak terien enthalten. Letztere haben bei Frauen die Aufgabe, aufsteigende Infektionen von der Scheide in die Gebärmutter und über die Eileiter in die freie Bauchhöhle zu verhindern. Mehr Kontrazeption mit Kondom bewirkt eine geringere Mikrobiom- Übertragung in der Partnerbezie hung. Ein Austausch von Mikroben kann jedoch vorteilhaft sein, denn er führt zu einer höheren Mikrobiom- Diversität beider Partner und stärkt so das Immunsystem, kann also von gesundheitlichem Nutzen sein. Die Wirkungen des Mikrobioms auf das Gehirn sind aus der Psychiatrie bekannt. Ein übertragenes Mikro biom kann in Partnerbeziehungen positiv wirken und z.B. eine längere Bindung fördern. — 1 BZgA-Studie: „Verhütungsverhalten Erwachsener 2023“ – Repräsentative BZgA-Wiederholungs befragung. www.bzga.de/fileadmin/user_upload/ PDF/pressemitteilungen/daten_und_fakten/ Infoblatt_BZgA-Studiendaten_Verhütungsver halten_2023.pdf 2 Lax S, et al. Longitudinal analysis of microbial interaction between humans and the indoor en vironment. Science 2014;345:1048. 3 Kullberg RFJ et al. Association between butyrate producing gut bacteria and the risk of infectious disease hospitalisation: results from two obser vational, population-based microbiome studies. Lancet Microbe 2024;5(9):100864. 4 Vital M et al. Colonic Butyrate-Producing Com munities in Humans: an Overview Using Omics Data. mSystems 2017;2(6):e00130–17. Zusammenfassung
oft genutzten Umgebung, wie etwa seiner Wohnung, einen „bakteriellen Fingerabdruck“ auf. Dazu gibt es Blindtests von Simon Lax et al. von der Universität Chicago, bei denen nur eine einzige Mikrobiom-Probe ausreichte, um herauszufinden, wer in welchem Haus mit wem zusam menlebte. 2 Warum ist in einer vertrauens vollen und festen Partnerbezie hung beim Geschlechtsverkehr auch positiv an einen Mikro biom-Austausch zu denken? Ein Austausch ist gleichbedeutend mit einer höheren Mikrobiom- Diversität bei beiden Partnern. Vom Mikrobiom geht die Pro duktion lebenswichtiger Vitamine und Fettsäuren aus. Damit wird das Immunsystem gestärkt und die Abwehr vor gefährlichen Keimen begünstigt. Dass dies klinisch rele vant ist, bestätigen unter anderem weniger differenzierte Mikrobio me bei Asthma und Autoimmun erkrankungen. Aus der Psychiatrie ist bekannt, dass bei Menschen mit Depression und Schizophrenie häufiger ein gestörtes Mikrobiom vorliegt. Umgekehrt ist davon ableitbar, dass ein intensi ver Mikrobiom-Austausch beim sexuellen Kontakt auch Spuren im Gehirn hinterlässt und für die Bin dung förderlich sein kann. Wie das Mikrobiom das zentrale Nervensys Hohe Mikrobiom-Diversität ist biologisch nützlich Mikrobiom beeinflusst das Gehirn
tem beeinflusst, ist derzeit Schwer punkt der Forschung. Ergebnisse sind allerdings kurzfristig kaum zu erwarten bei den individuell sehr unterschiedlichen Mikrobiom- Zusammensetzungen. Wie Darmbakterien den Kör per vor Entzündungen schützen, zeigte eine klinische Beobachtung bei schwerer, stationär behandel ter Lungenentzündung. Oft war bei diesen Patienten ein gestörtes Mikrobiom feststellbar, bei dem zu wenig Butyrat durch Darm bakterien produziert wurde. 3 Ist der Prozess gestört, kommt es zu einem höheren Infektionsrisiko im ganzen Körper. 3 Ein Mangel an Butyrat-bildenden Bakterien wird ebenso mit Diabetes, Atherosklero se oder Adipositas in Verbindung gebracht. 4 Von in Gruppen lebenden Affen ist bekannt, dass das regelmäßige Ko habitieren keineswegs nur auf Fort pflanzung ausgerichtet ist, sondern dem Gruppenerhalt durch höhere Anteile an gleichem Mikrobiom dient. Alle Bakterien, die unseren Körper hilfreich bzw. nützlich be siedeln, besitzen insgesamt acht Millionen Gene. Diese bestimmen die Proteinproduktion in Art und Menge. Der Mensch besitzt ca. 22.000 solcher eiweißcodieren den Gene. Damit wird in einer in tensiven Partnerbeziehung durch regelmäßige sexuelle Kontakte auch Genmaterial von einem auf den anderen Partner übertragen. Mikrobiom-Austausch ist auch Gen-Austausch
Prof. Dr. med. Dipl. Psych. J. M. Wenderlein wenderlein@gmx.de
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